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Ein Tampon zum Überleben

Ob im Busch, barfuß durch Alaska oder gestrandet in der Wüste – Survival in TV, Filmen und Büchern boomt. Check-List sucht nach dem Faszinosum des voyeuristischen Dabeiseins beim Überlebenskampf.

13.06.2024 14:44
Redaktion
© unsplash

Hänsel & Gretel verliefen sich im Wald. Es war so dunkel und auch so bitter kalt…“ Unfreiwillig war es, dass die zwei Kinder um ihr Überleben draußen in der Wildnis und obendrein noch gegen eine Hexe kämpften. So gesehen kann man die beiden Helden aus dem Grimm-Märchen auch als Vorreiter der „Survival-Bewegung“ sehen. So wie die Geschwister manövrieren sich im wahren Leben eine beachtliche Anzahl an Personen in unangenehme Situationen – mit dem Unterschied, dass sie sich nicht gegen boshafte, hakennasige Zauberinnen bewähren müssen, sondern gegen ihre inneren Dämonen. Und das aus völlig freien Stücken. Überleben – auf gut Englisch „Survival“ – ist im Trend. Aber nicht nur das „selbst überleben“, sondern anderen dabei zuzusehen. 

Das geht ganz simpel auf YouTube. Die kostenlose Survival-Serie „7 vs. Wild“ des Survival-Outdoor-Abenteurers Fritz Meinecke ist ein Must-see für jeden Survival-Fan. Der 36-jährige Berliner Meinecke betreibt den YouTube-Channel „End of the Comfort Zone“. Tausende begeisterte Zuschauer verfolgen dort seine Outdoortrips. Und er ist der Erfinder von „7 vs. Wild“. Der SRF (Schweizer Radio und Fernsehen) ging 2022 in einem Online-Beitrag dem Erfolg von Meineckes Reality-Format auf den Grund und beschreibt es so: „Im Verlauf von 16 Folgen müssen sieben Kandidaten eine ganze Woche in der schwedischen Wildnis überstehen. Den Sieger erwartet am Ende ein Preisgeld von 10.000 Euro. Sechs bis neun Millionen Menschen schauen sich die Folgen im Schnitt an.

„7vswild“ – genial: Die Erfolgsserie auf YouTube schlägt alle Rekorde in Sachen Seherzahlen // © 7 vs. Wild

Das Kluge an der Serie: Die Kandidatinnen und Kandidaten sind Influencer. Sie bringen ihre ganze Community mit. Da hat die Serie gleich garantiertes Publikum. Zudem veröffentlichen die Teilnehmenden zu jeder Folge eigene Reaction-Videos auf ihren Social-Media-Kanälen. Das steigert die Popularität von ‚7 vs. Wild‘ weiter. Und die Kandidaten filmen sich selbst. Was einerseits die Produktionskosten minimiert.Andererseits kommen verwackelte Bilder und spontane Verzweiflungsmomente beim Publikum sehr authentisch an.“ Auch der Filmproduzent und Macher von „Big Brother“ Rainer Laux sieht den Erfolg der Reality-Serien auf Social Media in diesem Hilflosigkeits-Effekt. „Die gefühlt authentische Isolation und Gefahr sorgt beim Zuschauer für den gewissen Kick.“

Survival im Film – Fenster in eine andere Welt

Auch auf Netflix kommen Fans des Genres auf ihre Kosten. Es wird eine Auswahl geboten, die von apokalyptischem Humor in „Zombieland“ bis hin zu Herzschmerz in „Die Farbe des Horizonts“ reicht. Auch auf Amazon Prime wird Survival-Fans so einiges geboten: In „Buried – Lebend begraben“ erwacht Lastwagenfahrer Paul Conroy, gespielt von Ryan Reynolds, in einem Sarg tief unter der Erde und macht somit eine der beängstigendsten Erfahrungen, die man sich nur vorstellen kann. Je mehr der Sauerstoff zur Neige geht, desto stärker wird die Spannung. Die Serie „The Wilds“ dagegen zeigt den Überlebenskampf einer Gruppe Teenagerinnen auf einer Insel nach einem Flugzeugabsturz. 

Minimales Equipment, maximale Hilflosigkeit

Die „Discovery Channel“-Reality Show „Naked Survival – Ausgezogen in die Wildnis“ (Originaltitel: „Naked and Afraid“), die seit 2013 ausgestrahlt wird (mittlerweile als Staffel), gilt als Paradebeispiel für die Art von Bewegtbildunterhaltung im TV, die – laut den Erfindern – den menschlichen Voyeurismus auf mehreren Ebenen bedient: „Ein Mann und eine Frau werden NACKT an einem verlassenen Ort irgendwo auf der Welt ausgesetzt. Ohne Kleidung. Ohne Ausrüstung. Ohne Proviant. Um 21 Tage lang ‚da draußen‘ zu überleben, müssen sie mit den Mitteln der Natur Trinkwasser und Nahrung besorgen sowie einen Unterschlupf bauen und Feuer machen. Am letzten Tag müssen beide mehrere Kilometer zu einem Abholpunkt marschieren. Beide Teilnehmer bekommen eine Umhängetasche mit einer groben Karte und einem persönlichen, hilfreichen Gegenstand. Außerdem haben sie ein drahtloses Mikrofon als Halskette und ein Handfunkgerät, um im Notfall die in Reichweite befindlichen Produzenten zu kontaktieren. Jede Sendung beginnt mit einer Vorstellung der Teilnehmer, der Bestimmung des ‚Survival Index‘ (engl. Primitive Survival Rating) anhand ihrer Fähigkeiten und einem Hinweis für die Zuschauer mit heimischen gefährlichen Tieren und Pflanzen. Am Ende werden die Teilnehmer mit ihrem Anfangszustand verglichen. Dies beinhaltet ein Vorher-Nachher-Bild, den Gewichtsverlust und den neuen Survival Index. Teilweise brechen die Teilnehmer oder die Produzenten das Experiment vorzeitig ab. Dies geschieht vor allem aus medizinischen Gründen wie Erschöpfung oder akuten Erkrankungen, seltener aus persönlichen Gründen. Vereinzelt zwingt auch das Wetter zum Abbruch.“ Staffel 17 startete am 19. Februar 2023. 

Derartige TV-Formate, mit klingenden Titeln wie „Survival – Kampf ums Überleben“, „Das nackte Überleben“, „Survival-Trip ins Ungewisse“, „Alleine gegen die Wildnis“ oder „Survival Man – Abenteuer Wildnis“, haben alle eine sehr ähnliche Handlung: Die Protagonisten – mal Survival-Experten wie die Briten Bear Grylls oder Ray Mears, mal ganz normale Personen – bringen sich in eine Notsituation, in die auch Wanderer, Touristen oder andere theoretisch unfreiwillig geraten könnten, und zeigen, wie sie „aus der Nummer wieder rauskommen.“

Anderen beim Leiden zusehen

In der Survival-Doku-Reihe „Manhunt – Jagd auf Joel Lambert“ vom Discovery Channel geht man noch ein paar Schritte weiter und lässt den ehemalige Navy SEAL Soldaten Joel Lambert von den besten Spezialeinheiten der Welt jagen. Daher auch der Titel „Manhunt“, also „Menschenjagd“. Die Serie führt ihn dabei um die ganze Welt. Dabei muss der US-Veteran zum Beispiel einmal die polnische Grenze überwinden, während er vor den Grenzschützern fliehen muss, ein anderes Mal wird er von den Eingeborenen Neuseelands verfolgt. 

Besonders hervorzuheben unter all diesen „Bezwingern der Wildnis“ ist der britische Abenteurer Ed Stafford. Er ist der erste Mensch, der sich die komplette Strecke  von 6400 km am Ufer des Amazonas entlang durch den Regenwald gekämpft hat. Seither trägt er den Spitznamen „Amazonas-Bezwinger“. 2012 ließ sich der ehemalige Armee-Offizier für ein TV-Experiment für 60 Tage ohne Ausrüstung und Nahrung auf einer einsamen Insel aussetzen. Inzwischen hat Ed seine eigene Survival-Show, die im Discovery Channel zu sehen ist. Dort zeigt er viele nützliche Tipps und Tricks, zum Beispiel, wie er Fische mit seinem eigenen Kot als Köder fängt. 

Wie man an der Masse an Formaten sieht, wird einem als Zuseher vor allem eines ganz deutlich bewusst: Leben, Lieben, Leiden – die Dreifaltigkeitsformel für Reality-TV funktioniert immer noch. Wenn man Protagonisten dabei zusieht, wie sie „überleben“, möchte man denken, diese „Surviors“ haben nicht alle Tassen im Schrank, einen Sprung in der Schüssel und obendrein Sand im Getriebe. Man stellt sich als Zuseher nur eine einzige Frage: Warum tut sich jemand das an? Aus denselben Gründen, warum die Z-Promis sich ins Dschungelcamp auf RTL verirren? Also Ruhm und (vielleicht dringend benötigtes) Geld? Bestimmt auch. Ed Staffords Vermögen beläuft sich auf 1,7 Millionen Euro. Dafür treibt er seinen Körper – der eine oder andere ausgeschlagene Zahn muss da sportlich genommen werden – ebenso wie seine Psyche immer wieder an die Grenzen des Belastbaren. Somit möchte man meinen, es sei etwas anderes, was diese Personen dazu antreibt, in Welten fernab von den Vorzügen der Zivilisation abzutauchen. Vielleicht ist es der Wunsch nach einem naturverbundeneren Leben und mehr Autarkie?

Suvivalism – die Kunst zu überleben

Als Überlebenskünstler bezeichnet man in einer modernen Zivilgesellschaft zum Beispiel Politiker, die bei jedem noch so großen Skandal immer mit einem blauen Auge davonkommen, oder berufliche Vollpfeifen und Dampfplauderer, die es doch immer irgendwie schaffen, jemanden von sich positiv zu überzeugen, um dann am Ende wieder – wie eine Katze im freien Fall – auf beiden Beinen zu landen. Ein Überlebenskünstler – das ist jemand, der alle Widrigkeiten übersteht, ohne unterzugehen. Nur in der Wildnis geht’s dabei um Leben und Tod. Nicht, dass TV-Formate soweit gehen dürfen, jemanden vor laufender Kamera draufgehen zu lassen. Aber es soll uns vorgegaukelt werden, dass es tatsächlich um die Wurst geht, dass beim Survival-Trip in der lebensfeindlichen Wildnis Teamwork und mentale Stärke das A und O sind, um zu überleben. Was wohl tatsächlich auch so ist, falls man jemals auf einem Trip im Urwald oder in der Wüste stecken bliebe…. 

Das Ziel von Survival-Trainings: Im Krisenfall ohne viele Hilfsmittel überleben // © unsplash

Wir leben in Zeiten des Überflusses an Mitteln und Reizen, in einer Gesellschaft der Maßlosigkeit. Und wo Überfluss herrscht, ist der Überdruss meistens nicht weit. Wald, Wildnis, unberührte Natur – immer mehr Menschen reizt die Vorstellung, alleine und auf sich selbst gestellt draußen überleben zu müssen, sich nur von dem zu ernähren, was Mutter Natur einem bietet. Und diese Gedanken und Vorstellungen gibt es nicht erst, seitdem wir immer öfter von möglichen Blackouts hören oder seit die Corona-Pandemie so manchen von uns den Untergang der Zivilisation beschwören ließ…

Der moderne Mensch will sich wieder spüren. Will weg von „Fake“, hin zu mehr „Reality“. Weg von Tastatur und Maus, hin zu richtigem Werkzeug. Somit lassen sich einige dazu hinreißen oder gar inspirieren, selber zum „Survivor“ zu werden. Man kann ja bekanntlich alles lernen.

Survival of the fittest

„Survival-Trainings oder „Survival-Camps“ sollen dieses Bedürfnis befriedigen. „Raus aus der Komfortzone und rein ins Abenteuer! Werdet zum MacGyver der Natur.“ Das ist der allgemeine Tenor, den man bei den Anbietern solcher Trainingslager vernimmt. „Survival“ bedeutet ja, dass wir uns Fertigkeiten aneignen, die über das Setzen von richtigen Hashtags weit hinausgehen. Hier geht es darum, die Pflanzen- und Tierwelt zu kennen. Es bedeutet, Kenntnisse zu erlangen im Bereich Navigation, Wetterkunde, Jagd, Ökologie und Psychologie. Der Zivilisation den Rücken kehren, um das Prinzip „Survival of the fittest“ zu erproben – damit man, wenn’s doch mal hart auf hart kommt, derjenige ist, der sich in der Evolution durchsetzt unter all den verweichlichten Bürohengsten. Denn nur derjenige, der Reaktionsmuster in Notsituationen erkennt, Stressbewältigungsmethoden erlernt, Willen und Motivation schult und lernt, Prioritäten zu setzen, wird den längsten Atem haben. 

Aber abgesehen davon geht es vor allem auch darum, an einer Aufgabe zu wachsen und sich selbst besser kennenzulernen. Wie reagiere ich mental auf eine Extremsituation? Wie mache ich aus rudimentärsten Materialien ein loderndes Feuer? Wie gewinne ich Trinkwasser? Wie schaffe ich es, an so simplen Dingen nicht zu scheitern? Somit sind Survival-Camps auch bei Menschen in Führungspositionen sehr beliebt. Beim Outdoor-Training hält einem Mutter Natur oft den ehrlichsten Spiegel vor. So lernt man, ein Spiegelei auf einem Stein zu braten, mit einem Tampon Feuer zu machen, mit selbst geschnitztem Pfeil und Bogen zu jagen oder  einen Fluss an einem Seil kletternd zu überqueren. 

Für Leute, die für den Ernstfall gewappnet sein wollen, falls sie sich mal im Wald verlaufen, ohne Essen, ohne Trinken, ohne Dach über dem Kopf und ohne technische Hilfsmittel, für die geht’s auf Überlebenstour. Zum Beispiel nach Eggersdorf bei Graz um 139 Euro für einen Tageskurs. Billiger sind da die Lektüren, die es rund um „Überlebenstechniken“ gibt. Einen entsprechenden Ratgeber gibt es bereits um 9,95 Euro. Fähig zu sein, wenn es darauf ankommt, mit wenig Ressourcen eine Zeitlang auszukommen, nicht in Panik zu verfallen und handlungsfähig zu bleiben, das ist die Quintessenz von solchen Kursen und Büchern. 

Jedoch steht das Erlernen von Überlebenstechniken in einem kontrollierten, begleiteten und sicheren Umfeld, wie in Survival-Trainings, fernab von wirklichen Notsituationen. Selbst das schwierigste Trainingsmodul kann Stress- und Notsituationen nur simulieren. Wie man wirklich reagiert, das erfährt man dann doch meistens nur, wenn der Ernstfall eintritt. Wer hätte sich jemals vor der Pandemie gedacht, dass man zu denen zählt, die Toilettenpapier bunkern?

Die drei Prinzipien des Survival

„Survival ist mehr, als Notfälle in der Natur zu überstehen. Survival sind auch Erste-Hilfe-Situationen, Selbstverteidigung oder vorbereitet zu sein im Zivilschutz“, so Survival-Mentor Reini Rossmann auf seiner Website ueberlebenskunst.at. Sein Ziel ist es, bis 2025 eine Million Menschen in Österreich, Deutschland und der Schweiz zu besseren Survivalisten geschult zu haben. Auf seinem YouTube-Kanal und in seinem Blog stellt er die drei Prinzipien vor, die in allen Extremsituationen Bedeutung haben.

Prinzip #1: Know your Enemy. Kenne die Gefahr, informiere dich und schätze diese auch richtig ein. 

Prinzip #2: First Things First. Lerne, Prioritäten zu setzen. Was ist jetzt am allerwichtigsten. Plane einen Schritt nach dem anderen. Gehe überlegt vor.

Prinzip #3: Stressless. Je besser man es schafft, ruhig zu bleiben, umso höher sind die Überlebenschancen in Notsituationen. Panik ist ein schlechter Berater in Krisensituationen. 

„Es geht um die geistige Vorbereitung auf Gefahren, Krisen oder andere Extremsituationen“, so der Experte. Unser seelisches Gleichgewicht in Extremsituationen zu stabilisieren führt auch zur inneren Stärke, und die kann tatsächlich helfen. Nicht nur bei einer Katastrophe. Auch im Berufsalltag. Somit lernt man in solchen Survival-Kursen nicht nur fürs Überleben, sondern auch fürs Leben. Daher werden auch Survival-Kurse vom österreichischen Zivilschutzverband angeboten. 

Mit Kompass Richtung Innensicht: Survival-Formate geben auch Einblicke in die Psyche der Protagonisten // © 1920

Auch Vater Staat sensibilisiert für das Thema „Ernstfall“. Sagte Verteidigungsministerin Claudia Tanner in einem Interview 2022 doch: „Die Frage ist nicht, ob, sondern wann der Blackout kommt.“ Bis 2025 soll das Bundesheer übrigens 100 seiner Kasernen autark machen, und auch Bürger sollen „krisenfest“ gemacht werden. Ein Mausklick auf die Website des Bundesheers zeigt, dass das Beratungsangebot groß ist. Dort findet man auch Produktlisten für den Ernstfall. Das Interesse am Thema scheint wirklich groß zu sein. Durchforstet man das Internet nach Survival-Trainings und dem Schlagwort „Prepping“, erhält man rund eine halbe Million Treffer.

Psychologie des Überlebens

Überlebenswichtig ist vor allem die mentale Einstellung, die jemand hat. Survival-Coach Ralf Pintzka sagt, dass die zentrale Frage beim Überleben ist: Kann ich Gefahrensituationen mit realistischem Optimismus und mit gesundem Selbstvertrauen begegnen? Oder überwältigt mich das Erlebte und ich gebe auf? Das Unmögliche möglich machen, das klappt nur, wenn das Oberstübchen mitspielt. Menschen überstehen schwere Zeiten nur durch Optimismus und den Glauben an sich selbst. Wer zweifelt, der verzweifelt. Und scheitert. Die Schlüsselkomponente, die den Menschen dabei hilft, schwere Zeiten zu überstehen, ist die Fähigkeit, emotional resilient zu sein. Resilienz – eines der Modewörter der Gegenwart – ist die Fähigkeit, sich anzupassen, während man gleichzeitig ein Gefühl des Vertrauens und der Hoffnung bewahrt. „Diesen realistischen Optimismus gilt es zu entwickeln und zu pflegen. Eine Zauberformel dafür gibt es jedoch nicht. Jeder Mensch ist anders und muss sich darum zwangsweise mit seinen persönlichen Schwächen auseinandersetzen. Im ersten Schritt geht es also darum, sich seiner eigenen Psyche zu widmen“, so Pintzka. Zentrale Fragen sind: Wovor habe ich Angst? Was verursacht mir Stress? Neige ich zum Verkennen und Verleugnen von Problemen? Wenn ja: Welche Probleme sind das? Was fühle ich in Situationen, in denen ich scheitere? Was fühle ich, wenn ich einsam und von anderen isoliert bin? Welche Fähigkeiten habe ich? Und wo liegen meine Schwächen?

Des einen Leid, des anderen Freud

Eine Schwäche des Menschen ist bestimmt sein Hang zur wortlosen Feindseligkeit. Der Einschaltfaktor bei Survival-Formaten im Fernsehen oder auf Social Media-Plattformen ist weniger der Bildungsauftrag – etwa zu lernen, wie man aus Laub eine wärmende Decke bastelt – sondern mehr etwas in uns Menschen tief Verwurzeltes: die Schadenfreude. Es ist die Freude, die wir empfinden, wenn ein anderer leidet. Es ist die Befriedigung, die wir erleben, wenn wir sehen, wie jemand anderes versagt. Schadenfreude  amüsiert uns, obwohl es gemein ist, dass sie es tut. Schadenfreude soll Außenseiter auf ihren Platz verweisen und uns ein gutes Gefühl vermitteln. In den letzten Jahren ist sie durchaus salonfähig geworden, dank Formaten wie „TV Total“ oder „Upps, die Pannenshow.“ Pleiten, Pech und Pannen und kleinere und größere „Auwehs“ befriedigen unsere Humorrezeptoren. Die Lust an fremdem Unglück und kleinen Bösartigkeiten lässt uns den Knopf auf der Fernbedienung drücken. Es ist aber eben weniger das Bild „des Mannes, der auf der Bananenschale ausrutscht“, was Gelächter hervorruft. Worauf die Unterhaltungsbranche setzt, hat oft mit dem „Bloßstellen“ Dritter zu tun. Vor allem wenn bekannte Persönlichkeiten leiden, bemerken wir, wie die Mundwinkel nach oben zeigen. 

Aber warum freuen wir uns über den Schaden anderer? „Schadenfreude ist die kleine Schwester der Niedertracht, sie ist verwandt mit dem Neid und wird gespeist von dem Minderwertigkeitsgefühl“, schreibt die Journalistin Katrin Wilkens, die sich bereits 2007 intensiv mit diesem Gefühl befasste. „Evolutionär betrachtet ist Schadenfreude überlebensnotwendig. Sie schützt das Gruppenrudel vor Einzelschmarotzern. Und sie ist ein gut funktionierender Sich-Vergewisserungs-Kitt in einer sozialen Gemeinschaft. ‚Seht her, der macht es falsch.‘ Heißt übersetzt: ‚Seht her, wir machen es also richtig.‘ Wer im Bus brav eine Fahrkarte gelöst hat, genießt die Genugtuung, wenn jemand vom Kontrolleur erwischt wird, der es nicht nötig hatte, für die Fahrt, wie alle anderen, zu zahlen. Mangels Befugnis hätte man ihn nicht selbst bestrafen dürfen, somit wird es als ausgleichende Gerechtigkeit empfunden, dass jemand anders es erledigt.“ Nancy Brigham vom Psychologischen Institut der Universität von Kentucky meint: „Schadenfreude entsteht immer dann, wenn einem Beneidenswerten scheinbar unerwartetes Unglück widerfährt.“

Schadenfreude als Gleichmacher

Die Psychologin Brigitte Boothe führt aus, dass Schadenfreude auch einigen Parametern folgt. So muss derjenige, der den Schaden und somit auch den Spott hat, nicht nur „eine gewisse Überlegenheit ausstrahlen“, sondern „der Schaden muss überschaubar sein.“ Ansonsten überwiegt oft auch das Mitleid. Die meisten von uns sind dann doch keine empathielosen Soziopathen. Jemand mit Anstand tritt dann nicht auch noch hin, wenn jemand am Boden liegt. Der Grat zwischen „Haha“ und „Oh, der Arme!“ ist eben doch schmäler, als man vermuten möchte. 

Und trotzdem ist Schadenfreude laut Boothe „in der psychoanalytischen Theorie neben der Vorfreude das einzige Gefühl, das unmittelbare Entspannung herbeiführt.“ Etwas zu sehen oder zu lesen, worüber man sich selbst erheben kann, befriedigt uns Menschen zutiefst. „Schadenfreude ist ein gesellschaftlicher Gleichmacher. Mit ihrer Hilfe können sich auch sozial Schwächere wenigstens für einen Augenblick auf einem Niveau mit den vermeintlich Besseren, Stärkeren, Schöneren fühlen“, so Wilkens. Gerade im Mittelalter hatte die Schadenfreude ihre Blütezeit. Nicht umsonst wurde der Teufel „der Schadenfroh“ genannt und Menschen nur zu gerne an den Pranger gestellt, um so Verfehlungen – egal wie groß oder klein sie waren – öffentlich zu machen.

Wie viel Boshaftigkeit ist ok?

Der ausufernde Trend der „Political Correctness“ hat es uns etwas vermiest, sich über vermeintlich Schwächere zu erheben. Sich über Mitmenschen lustig zu machen ist verpönt und zeugt in einer intellektuellen „Bubble“, in der ja alle gerne wären, eher von Bildungsferne als von Weitblick. Hohn hat in einer toleranten Gesellschaft keinen Platz. Und Kritik prallt sowieso derzeit auf „Cancel Culture.“ Außerdem verwandelt sich Spott, bei manch anonymem Internetnutzer, recht flott in einen „Shitstorm“. Stellvertreter müssen her, die sich am Leid anderer ergötzen. Deswegen gibt es Satiriker. Denn Satire darf ja bekanntlich alles… glaubt man da zumindest deutschen Vertretern dieser Zunft, wie Jan Böhmermann. In Österreich ist das wieder anders. Da müssen auch Satiriker ihre Zunge im Zaum halten, man könnte sich politisch – beim Spotten – etwas verkühlen. Das ist aber eine andere (österreichische) Geschichte. 

Weniger ist mehr: „Survival” heißt, Prioritäten zu setzen und zu wissen, was nötig ist und was nicht // © 1920

Bleiben wir bei der Psychologie hinter der Schadenfreude: Forscher von der Universität London haben mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie jene Hirnregion entdeckt, die aktiv wird, wenn sich Schadenfreude einstellt. Männer und Frauen sind unterschiedlich schadenfroh. Männer sind mit sich und der Welt zufrieden, wenn bösartige Rudelmitglieder von der Gemeinschaft bestraft werden. Zum Beispiel mit Elektroschocks. Frauen sind schadenfreudiger, wenn die Bestrafung etwas subtiler ist. Egal wie, die Schadenfreude balanciert wohl immer in einem Drahtseilakt, zwischen Schaden und Freude. Wobei Freude wohl eines der wichtigsten Gefühle in unserem Leben ist. Freude treibt uns an und motiviert uns. Doch das Missgeschick oder Unglück anderer könnte auch durchaus unsere Gedanken beflügeln: „Das kann ich doch viel besser als der Versager.“ Somit könnte uns Schadenfreude auch zum Erlernen einer neuen hilfreichen Fertigkeit anspornen. Und wenn es die ist, ohne moderne Hilfsmittel Feuer zu machen.

Zwischen Fremdschämen und Voyeurismus

Wo Schadenfreude ist, ist der Voyeurismus nicht weit. Voyeurismus im Fernsehen ruft sowohl Kontroverse als auch Interesse hervor. Voyeurismus ist erregend, und das nicht (nur) im sexuellen Sinn. Schlägt man das Wort „Voyeurismus“ nach, bezeichnet es „das Erreichen von sexueller Erregung durch Beobachtung anderer Personen, die nackt sind, sich ausziehen oder gerade sexuell aktiv sind.“ Im Fernsehen wird dieser Voyeurismus aber dann doch ein wenig abgeschwächter befriedigt, denn TV-Sender wollen natürlich – zumindest zur werberelevanten Sendezeit – (halbwegs) sauber und jugendfrei bleiben. Nach der Ausstrahlung von „Big Brother“ im deutschsprachigen Fernsehen konnten TV-Sender kaum noch genug bekommen von solchen Formaten, die auf das „Dauerbeobachter-Prinzip“ setzen. Ein solches Beispiel ist das „Dschungelcamp“, das mittlerweile in der 16. Staffel angelangt ist. Durch das Befriedigen von Schaulust und das Zelebrieren von Schamlosigkeit versuchen sich die TV-Format-Erfinder gegenseitig die Seher auszuspannen. Je intensiver und schamloser  die Protagonisten vorgeführt werden, umso besser ist es für die Quote.

Wer sich ekelt, verliert

Auch Survival-Formate spielen auf der Klaviatur unserer Psyche. Je nackter, dreckiger und abartiger, umso besser. Die richtige Dosis an Ekel erregt auch unsere Gemüter. Wie absurd möchte man meinen, verbindet man Ekel doch mit einer Abneigung etwas oder jemandem gegenüber. Und doch lockt uns das bewusste Ekeln vor die Fernsehgeräte. Denn auch vom Abstoßenden fühlen wir uns angezogen. „Menschen brauchen eine Portion Wut und Ekel, um sich nicht zu langweilen“, sagt Psychotherapeut Rainer Krause, der zahlreiche Fachbücher zum Thema Ekel verfasst hat. „Leute haben einen Affekthunger. Gerade in Kulturen, in denen nicht viele schlimme Dinge passieren. Die Anzahl der Traumata ist – verglichen mit früheren historischen Perioden – zumindest in unserer Kultur sehr stark zurückgegangen. Unser System braucht eigentlich ein gewisses Ausmaß an Ärger und Wut, um sich nicht zu langweilen, um sich fit zu halten. Das gilt auch für den Ekel. Gerade unter dem Einfluss dieser ungeheuren Hygienebemühungen, die uns übergestülpt werden. Negative Emotionen werden gesucht, solange sie handhabbar sind. Das ist wie Thrill.“  

Der Thrill – also der Nervenkitzel – ist es, der uns einschalten lässt. Ein Thrill, den auch der Blick durch das Schlüsselloch seit jeher auf uns Menschen ausübt. Alles sehen und selber nicht gesehen werden, was gibt es Besseres? Gaffen und Spannen – wir alle tun es und haben es schon getan. Ekel und Machtgefühl schenken uns einen kleinen Kick in unserem Alltag. Voyeurismus im TV kann durchaus auch einige positive Aspekte mit sich bringen. Einige Survival-Formate liefern uns Einblicke in Welten und konfrontieren uns mit Themen, die uns sonst verborgen bleiben würden. Der hoffnungslose Optimist kann eben aus allem etwas Positives ziehen.

Macht macht geil

„Das Fremde und Exotische, das lockt uns magisch an“, meint wiederum Psychologin und TV-Expertin Ruth Marquardt. „Überlebens“-Shows berühren uns auch deswegen, da sie uns mitnehmen auf eine emotionale Reise, bei der die Teilnehmer ihre Ängste und ihre Stärken entdecken und ihr wahres Selbst enthüllen. Das ist authentisch. Und Authentizität macht die Protagonisten sympathisch. Und doch muss man zugeben: Es ist das Überlegenheitsgefühl, die vermeintliche soziale Dominanz, was uns „triggert“. „Die Zuschauer mögen es, bei Formaten wie dem Dschungelcamp abstimmen zu können, sich beteiligen zu können. In anderen Ländern wurde das Dschungelcamp als reine Aufzeichnung ausgestrahlt, das kam bei Weitem nicht so gut an. Der deutsche Zuseher kann sich mit seiner Fernbedienung und seinem Handy als machtvoll erleben, indem er jemanden aus dem Camp wählen oder wiederholt in Prüfungen schicken kann“, so Marquardt. Beim Anschauen solcher Formate bedarf es keiner besonderen Tricks und raffinierter Winkelzüge, um Macht zu erlangen. Mächtig zu sein funktioniert per Knopfdruck auf der Fernsehcouch. 

Feuer machen: Eine Fertigkeit, die hilfreich sein kann, wenn es ernst wird // © 1920

Obwohl Macht eng mit Selbstüberschätzung verknüpft ist. Mit den tückischen Nebenwirkungen der Macht beschäftigte sich der Psychologe Philip Zimbardo von der kalifornischen Stanford University. Auf sein Konto geht das berühmt-berüchtigte Stanford-Prison-Experiment aus dem Jahr 1971, in dem er mit Freiwilligen die Machtverhältnisse in einem Gefängnis simulierte. Per Münzwurf legten die Forscher fest, ob ein Proband Wärter oder Gefangener wurde. Das Rollenspiel mündete schnell in echte Misshandlungen und musste abgebrochen werden. Gut, dass Fernsehmacher ihrem Seher nicht zu viel Macht verleihen können. Der Mensch ist das gefährlichste und kannibalistischste Raubtier.

Das Fazit, warum Survival-Reality-TV-Formate so erfolgreich sind, ist, dass wir Menschen uns grundsätzlich selbst im besten Licht darstellen wollen. „Als Menschen, die sich intellektuell fortbilden, erfolgreich sind, vielleicht auch als Menschen, die nie selbst so etwas Ekliges tun würden“, so Marquardt. Vielleicht sind wir manchmal auch ein wenig neidisch auf so manchen Protagonisten, der sich seinen Ängsten und inneren, boshaften Stimmen stellt. Wir unperfekte Menschen sehen anderen unperfekten Menschen dabei zu, wie sie nicht perfekt sind. Wie sie ihre Schwächen zeigen und scheitern. Das ist etwas was wir uns auch im realen Leben gerne einmal erlauben wollen würden. Und vielleicht erklärt das am Ende ganz simpel, unsere Faszination für Survival-Formate im Fernsehen.


Flucht oder Chance?

Mentalcoach Conny Kreuter über Survival-Formate im TV und Survival-Camps.

Sich sein Mittagessen selber erjagen, Trinkwasser abkochen, zur Not im Regen duschen… Survival-Formate streben nach dem Erfolg von postapokalyptischen Videospiel-Blockbustern wie „The Last of Us“ und Erfolgsfilmen wie „The Hunger Games“. Was Fernsehmacher damit erreichen wollen ist Quote, denn die spült am Ende des Tages Geld in die Kassen der Sender. Über die Beweggründe, wieso Survivalformate beim Zuseher gut ankommen und wieso man sich auch im wahren Leben dazu motiviert, ein Survival-Camp zu besuchen bzw. sich zu leisten, darüber hat sich auch Mentalcoach Conny Kreuter Gedanken gemacht. Wir haben sie zum Interview getroffen.

Check-List: Warum boomen Survival-Formate?

Conny Kreuter: Da gibt es mehrere Gründe. Einer, der bestimmt bei vielen mitspielt, ist, dass die Zeiten sehr hart sind. Kriege, Covid, Teuerungen usw. Viele Menschen kämpfen im wahrsten Sinne ums Überleben und finden in diesen Formaten Solidarität. Frei nach dem Motto: „Nicht nur mir geht’s schlecht, dem geht’s eigentlich noch viel mieser.“ Dass diese Formate nur eine befristete Zeit dauern und inszeniert sind, spielt dabei überhaupt keine Rolle. „Im Hier und Jetzt gibt es Menschen, die sind ärmer dran als ich.“ Das spendet Trost.

Mentalcoach Conny Kreuter // © Tristan Breyer

CL: Anderen beim Überleben zuzusehen ist eine Sache, aber Fertigkeiten zu erlernen, die einem dabei helfen sollen, ist die andere. Warum leisten sich mittlerweile viele Menschen ein Survival-Training?

Kreuter: Wir sind so überflutet von Infos, haben tausend To-dos am Tag und kommen vom Denken gar nicht mehr raus. Unsere Sinne sind oft taub und stumm gearbeitet. Da kommt bei vielen Menschen ein großer Drang danach auf, „sich wieder zu spüren“, nach Verbindung mit der Natur und den Elementen.

CL: Das klingt danach, dass einige von uns Grenzerfahrungen suchen…

Kreuter: „Grenzerfahrung“ beinhaltet ein wichtiges Wort, nämlich „Grenze“. Die eigene Grenze überhaupt mal wahrzunehmen, ist für viele schon eine Riesenherausforderung, weil wir uns eben zu wenig spüren, zu viel im Außen und zu wenig bei uns selbst sind. Diese Grenzerfahrung lässt uns ganz klar erkennen, worin unsere Stärken und Schwächen liegen, wo die Komfortzone aufhört und wo das persönliche Wachstum beginnt. Wir begegnen, egal welche Probleme wir auch haben, ja immer unseren eigenen Grenzen.  Auch wenn wir den Kontext ändern und das Büro mit der Wildnis tauschen, stoßen wir immer auf die gleichen Probleme – nämlich unsere eigene Unzulänglichkeit, mangelnder Selbstwert, mangelndes Selbstvertrauen etc. Wir bleiben immer gleich, können in einem neuen Kontext aber besser erkennen, was unser eigentliches Problem ist.

CL: Es ist also auch die Gefahr, die uns reizt: „Was uns nicht umbringt, macht uns stärker.“

Kreuter: Es kommt natürlich darauf an, welches Angebot hier vorliegt. Die Survival-Trainings, die ich kenne, sind alle abgesichert mit geschulten Guides, oft gibt es auch vorab Ärztechecks und psychologische Tests. Zum Beispiel, wenn man eine fünf Wochen lange Extremtour am Amazonas macht, wie ein Freund von mir. Die Sicherheit der Teilnehmer steht dabei an erster Stelle. Außerdem wird über die Risiken normalerweise detailliert Auskunft gegeben. Wenn man diese Eingangsphase durchsteht, ist es im Regelfall so, dass man dem auch gewachsen ist. Mit Sicherheit ist aber nicht jede Person so einer Erfahrung gewachsen. Körperliche Grenzerfahrungen bringen immer auch mentale Hürden mit sich. Wie gehe ich mit Schmerz um, wie gehe ich mit extremer Müdigkeit um, wie schaffe ich es, mich trotz höchster Belastung zu fokussieren, wie gehe ich mit Gruppendruck um, mit Nahrungsknappheit und so weiter. Da braucht es definitiv eine spezielle Persönlichkeitsstruktur oder Training. Ein Profisportler überschreitet ja auch in jedem Training und in jedem Wettbewerb seine eigenen Grenzen. Schrittweise. Man wird nicht von heute auf morgen Champion. So wird man auch nicht von heute auf morgen Survivalchamp.

CL: Sie würden also empfehlen, sich vorher auf ein solches Survival-Training vor allem mental vorzubereiten, also mit dem richtigen Mindset dort reinzugehen?

Kreuter: Es ist definitiv wichtig, sich intensiv mit dem zu Erwartenden auseinanderzusetzen. Was sind meine wahrhaftigen Beweggründe? Will ich das nur machen, um meinen Kumpels etwas zu beweisen, um vermeintliche „Stärke“ zu zeigen? Möchte ich es aus Trotz wagen, weil meine Eltern mir Dinge nie zugetraut haben? Oder will ich wahrhaftig gestärkt da raus gehen? Möchte ich wachsen und mich selbst neu kennenlernen? Welche Gefahren lauern auf mich und dadurch auch: welches Lernpotenzial? Was sind meine größten Hürden und Schwierigkeiten? Und aus heutiger Sicht: Wie könnte ich damit umgehen? Visualisierungen helfen da sehr gut. Sich die Reise vorstellen und reinfühlen, sich mental da schon hinbewegen, um zu schauen, wie könnte es denn sein und fühle ich mich bereit? Ehrlichkeit und Reflexion sind da definitiv gefragt im Vorfeld, sowie Selbstbestimmung. Weiß ich, dass ich mein Verhalten und Situationen selbst lösen kann, traue ich mir das zu? Habe ich das Vertrauen in mich?

CL: Ein Survival-Camp zu besuchen ist natürlich auch eine Kostenfrage. Ist das ein gutes Investment in mich selbst?

Kreuter: Es kommt darauf an, ob ich wirklich diese Action brauche oder ob ich in Wahrheit auf der Suche nach mir selbst bin. Denn Zweiteres kann man natürlich jeden Tag versuchen, indem wir lernen, das Handy wegzulegen und mal für ein paar Minuten Monotonus – also Eintönigkeit – zu erleben, um uns dann selbst wieder hören und fühlen zu können. Wenn ich wirklich auf der Suche nach Action bin – und das sind erfahrungsgemäß die wenigsten, da sie nur glauben Action zu suchen, weil sie sich in Wahrheit nicht spüren und durch dieses Extrem aber zwangsläufig ins Spüren kommen –, dann kann man sich selbst immer wieder neue Aufgaben und Limits stellen. Ich denke, die größte Challenge im Leben besteht ja sowieso immer darin, sich selbst neu zu erfinden, zu wachsen und zu übertreffen. Dazu brauche ich eigentlich kein Geld, sondern Kreativität und ein neues Gebiet, in dem ich noch nie Fuß gefasst habe.

CL: Gerade Protagonisten in Survival-Formaten im TV erinnern mich an eine vielleicht etwas extremere Form des „Aussteigertums“. Also Menschen, die radikal mit ihrem bisherigen Leben brechen, sich gesellschaftlichen Normen des Zusammenlebens entziehen und sich nicht länger in eine Form pressen lassen wollen. Können Sie es als Mentalcoach verstehen, warum einige von uns unserer „Normalität“ den Rücken kehren wollen? Ist unser Leben mittlerweile für viele zu eintönig und vor allem zu einengend geworden?

Kreuter: Ich glaube, dass wir für unsere Welt, die wir geschaffen haben, eigentlich nicht geschaffen sind. Wir sind nicht dafür gemacht, so viel zu sitzen, uns ununterbrochen mit Problemen zu beschäftigen, von A nach B zu hetzen ohne Kontakt zur Natur, zu wenig Kontakt zu wahren Freunden und Familie zu haben und vor allem zu wenig Kontakt mit uns selbst. Die Welt ist zu laut, zu schnell, zu viel. Deswegen sehnen wir uns nach Ruhe, Langsamkeit und Monotonie. Monotonus – ein Ton. Um wieder in uns reinhören zu können und dann wahre Motive und den wahren Sinn des Lebens wieder erfassen zu können. Endlich wieder ins Spüren kommen. Zu uns selbst.

Portrait

Rosa Vogel

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