Schlafmuster: Der Mythos vom Nachtschlaf
Neue Studien zeigen: Schlaf ist kein Einheitsmodell, sondern von Umwelt, Genetik und Lebensstil geprägt.
Manchmal wacht man um drei Uhr früh auf, ist hellwach und wundert sich: Bin ich gestört – oder normal? Eine viel zitierte These besagt, dass Menschen früher in zwei Phasen schliefen – mit einer Wachzeit dazwischen, die zum Nachdenken oder Schreiben genutzt wurde. Historiker und Anthropologen sehen darin den „ursprünglichen“ Schlafrhythmus. Doch die Wissenschaft zeichnet heute ein differenzierteres Bild.
Schlaf in Segmenten – nicht für alle
Tatsächlich fanden sich in historischen Quellen bis ins 18. Jahrhundert Hinweise auf den sogenannten „ersten“ und „zweiten“ Schlaf. Auch Laborexperimente in den 1990er-Jahren zeigten, dass Probanden bei sehr langen Dunkelphasen von bis zu 14 Stunden automatisch in zwei Schlafsegmente verfielen. Dieses Muster hängt also mit Lichtverhältnissen und Photoperiode zusammen – nicht mit einer fixen biologischen Vorgabe.
Aktuelle Feldforschung bei Jäger- und Sammlergruppen in Afrika und Südamerika belegt sogar das Gegenteil: Ohne künstliches Licht schlafen die Menschen meist durch, und zwar im Gleichklang mit Temperatur und Tageslicht. Das spricht dafür, dass der durchgehende Nachtschlaf ebenfalls ein natürliches Muster ist – nur eben unter anderen Umweltbedingungen.
Schlaf als individuelles System
Genetik, Chronotyp und Lebensrhythmus tragen entscheidend dazu bei, wie Menschen schlafen. Manche Gene begünstigen kurze, effiziente Schlafphasen; andere führen zu späteren Einschlafzeiten. Frühaufsteher und Nachtmenschen sind keine Abweichung, sondern Ausdruck biologischer Vielfalt. Auch das Alter spielt eine Rolle: Ältere wachen häufiger auf, ohne dass dies gleich eine Störung bedeutet.
Neuere Untersuchungen aus der Chronobiologie deuten darauf hin, dass der individuelle Schlafbedarf genetisch breiter gestreut ist, als lange angenommen. Zwischen fünf und neun Stunden Nachtruhe können vollkommen ausreichend sein – entscheidend ist nicht die Dauer, sondern die subjektive Erholung. Zudem beeinflussen gesellschaftliche Rhythmen, Arbeitszeiten und Lichtverschmutzung den Schlaf stärker als die innere Uhr. Wer abends länger aktiv ist, folgt oft schlicht den Zwängen eines 24-Stunden-Lebensstils, nicht einer biologischen Anomalie.
Auch das Klima spielt mit: In tropischen Regionen schlafen viele Menschen in zwei Etappen – jedoch nicht nachts, sondern mit einer Ruhephase am Nachmittag. In mediterranen Ländern hat sich die Siesta kulturell etabliert, weil sie mit der Wärme und dem Tageslicht korrespondiert. Der Schlaf verteilt sich hier über den Tag, ohne dass von einer Störung die Rede wäre. Es handelt sich also um ein funktionales, an Umwelt und Kultur angepasstes System.
Ein globaler Blick auf den Schlaf
Die westliche Vorstellung von acht Stunden ununterbrochenem Nachtschlaf ist eine relativ junge und regional geprägte Norm. In anderen Kulturen gilt Flexibilität als gesünder als Disziplin. Viele indigene Gesellschaften oder Nomadenpopulationen kennen keine festen Bettzeiten – geschlafen wird, wenn Müdigkeit auftritt. Auch Tiere zeigen eine erstaunliche Vielfalt an Schlafmustern: von segmentierten Ruhephasen bei Raubkatzen bis zu Mikro-Nickerchen im Vogelflug.
Diese Vielfalt deutet darauf hin, dass Schlaf kein starres biologisches Programm ist, sondern eine evolutionär anpassungsfähige Strategie. Sie richtet sich nach Ressourcen, Temperatur, Licht und sozialem Umfeld. Wer also um drei Uhr nachts wachliegt, muss das nicht als Fehler empfinden – vielleicht reagiert der Körper nur auf Reize, die in einer anderen Umgebung völlig normal wären.
Schlaf ist kulturell, nicht nur biologisch
Schlaf erzählt immer auch etwas über die Gesellschaft, in der er stattfindet. Die westliche Idee vom „gesunden Durchschlafen“ ist das Ergebnis elektrischen Lichts, fester Arbeitszeiten und urbaner Lebensweise – nicht unbedingt ein Maßstab für die Menschheit insgesamt. Historische Modelle wie der „erste“ und „zweite“ Schlaf liefern wertvolle Perspektiven, aber sie sind nur ein Ausschnitt aus einer viel größeren Geschichte.
(PA/red)