Erinnerungen werden stufenweise stabilisiert

Die Erkenntnis, dass Erinnerungen in Phasen geprüft und gestaffelt gespeichert werden, eröffnet neue Wege, das Gedächtnis zu verstehen und zu therapieren.

30.12.2025 9:39
red04
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Durch diese Erkentnis könnte es alternative Wege geben, um Erinnerungen zu stabilisieren.

Jedes Erlebnis, jeder flüchtige Moment, jede intensive Erinnerung wird im Gehirn einer Prüfung unterzogen: Behalten oder vergessen? Neue Forschungsergebnisse aus dem The Rockefeller University Lab zeigen nun, dass diese Entscheidung nicht durch einen simplen Schalter getroffen wird, sondern durch eine Reihe molekularer Timer, die nach und nach aktiv werden. Erinnerungen sind demnach keine festen Einheiten, sondern dynamische Prozesse, die in Stufen stabilisiert werden.

Vom Schalter zur Timer-Kaskade

Bisher nahm man an, dass Erinnerungen durch stabile Proteine oder synaptische Veränderungen dauerhaft im Gehirn verankert werden. Die aktuelle Studie stellt dieses Modell infrage. Priya Rajasethupathy und ihr Team haben entdeckt, dass Erinnerungen in mehreren Phasen stabilisiert werden, abhängig davon, wie relevant das Erlebnis für den Organismus ist. Zunächst aktiviert das Gehirn einen Timer für Minuten, dann für Stunden, und erst nach Tagen oder Wochen wird die Erinnerung in das Langzeitgedächtnis überführt. Diese zeitlich gestaffelte Verarbeitung erklärt, warum manche Erlebnisse sofort im Gedächtnis bleiben, während andere allmählich verblassen.

Molekulare Akteure

Die Forscher identifizierten drei zentrale Transkriptionsfaktoren, die nacheinander aktiv werden und die Stabilisierung der Erinnerung vorantreiben. CAMTA1 übernimmt die erste Phase und sorgt dafür, dass eine Erinnerung über die ersten Tage hinweg Bestand hat. TCF4 folgt in einem späteren Stadium und ermöglicht die langfristige Sicherung über Wochen. Schließlich greift ASH1L ein, ein Enzym, das durch Veränderungen an der Chromatinstruktur die Erinnerung dauerhaft verankert. Diese Entdeckung verändert das klassische Verständnis von Gedächtnisbildung, das bisher von einem simplen Ein-Schalter-Modell ausgegangen war.

Rolle des Thalamus

Traditionell wird angenommen, dass Kurzzeitgedächtnis im Hippocampus entsteht und langfristige Speicherung im Kortex erfolgt. Überraschenderweise zeigte die Studie, dass der Thalamus eine zentrale Funktion bei der Sortierung und Weiterleitung von Erinnerungen übernimmt. Er wirkt wie ein Gatekeeper zwischen Hippocampus und Kortex und entscheidet, welche Erinnerungen eine Chance auf Langzeitstabilisierung erhalten. Dieses Zusammenspiel verschiedener Hirnregionen macht deutlich, dass Erinnern ein dynamischer und koordinierter Prozess ist.

Relevanz für Gedächtniserkrankungen

Die neuen Erkenntnisse haben auch potenziell große Bedeutung für das Verständnis von Gedächtnisstörungen wie Alzheimer. Bisher konzentrierten sich Therapien vor allem auf den Hippocampus, doch die Entdeckung mehrstufiger Timer und die zentrale Rolle des Thalamus legen nahe, dass es alternative Wege gibt, Erinnerungen zu stabilisieren. Zukünftige Therapien könnten darauf abzielen, die molekularen Programme zu unterstützen, die für die langfristige Speicherung von Erinnerungen verantwortlich sind, selbst wenn der Hippocampus geschädigt ist.

Dynamischer Prozess

Diese Forschung verdeutlicht, dass Erinnerungen nicht sofort dauerhaft gespeichert werden, sondern dass das Gehirn sie in mehreren Phasen prüft und nach ihrer Relevanz bewertet. Je öfter und bedeutender ein Erlebnis ist, desto wahrscheinlicher durchläuft es alle Timer-Phasen und gelangt ins Langzeitgedächtnis. Unwichtige Eindrücke hingegen verblassen. Das Gehirn zeigt damit ein ausgeklügeltes Filtersystem, das täglich entscheidet, welche Informationen wertvoll genug sind, um behalten zu werden.

Zukunft der Gedächtnisforschung

Die Entdeckung der molekularen Timer eröffnet neue Perspektiven für die Gedächtnisforschung. Zukünftige Studien könnten klären, wie die Aktivierung der Timer genau gesteuert wird, ob es noch weitere Phasen gibt und wie dieses Wissen therapeutisch genutzt werden kann. Erinnern wird damit nicht mehr als einmaliger Akt verstanden, sondern als ein vielstufiger, dynamischer Prozess, der das Gehirn befähigt, eine Flut an Eindrücken sinnvoll zu ordnen und nur einen Bruchteil dauerhaft zu behalten.

(red)

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