Wie grün ist Österreichs Strom wirklich?
Offiziell stammen 94 Prozent des heimischen Stroms aus erneuerbaren Quellen. Doch die Zahl täuscht.

Wenn Österreichs Regulierungsbehörde E-Control jubelt, das Land beziehe 94 Prozent seines Stroms aus erneuerbaren Energien, klingt das nach einer Erfolgsgeschichte. Sonne, Wind und Wasser – das klingt sauber, autark und klimaneutral. Doch wer hinter die Bilanz blickt, erkennt: Diese 94 Prozent sind ein rechnerischer Wert, kein physikalischer. Der Strom, der tatsächlich aus der Steckdose kommt, stammt weiterhin aus einem europäischen Verbundnetz, in dem auch Gas-, Kohle- und Atomstrom zirkulieren.
Bilanz oder Realität?
„Bilanziell“ bedeutet: Österreich erzeugt im Jahresdurchschnitt so viel Strom aus erneuerbaren Quellen, wie es selbst verbraucht. In Zeiten von Dunkelflauten – also wenn Sonne und Wind fehlen – fließt jedoch Energie aus Deutschland oder Tschechien ins Netz, vielfach aus fossilen Quellen. Der umgekehrte Effekt im Sommer, wenn Photovoltaik-Anlagen Überschussstrom erzeugen, führt zu negativen Preisen am Markt. Das Problem: Ein hoher Anteil an erneuerbarem Strom auf dem Papier löst weder die saisonalen Schwankungen noch die Speicherfrage.
Photovoltaik als Sommerwunder
Der Löwenanteil des Ausbaus entfällt derzeit auf Photovoltaik. Kärnten und die Steiermark haben ihre installierte Leistung seit 2020 mehr als verdreifacht. Doch Photovoltaik liefert Strom vor allem in den Sommermonaten – wenn der Bedarf geringer ist. Im Winter, wenn Haushalte und Industrie mehr Energie benötigen, klafft die Lücke. Genau hier würde Windkraft einspringen. Doch während PV-Anlagen inzwischen in jedem Bundesland gefördert werden, stößt der Ausbau von Windrädern auf Widerstände: bürokratische Hürden, lokale Proteste, zögerliche Genehmigungen.
Windkraft ist Winterkraft
Windkraft deckt über das Jahr hinweg rund 12 Prozent der österreichischen Stromversorgung. Im Winter ist dabei der Anteil aber deutlich höher als im Sommer: Von November 2023 bis März 2024 lag der Windkraft-Anteil bei 15 Prozent. Tage, an denen die Windkraft mehr als 50 Prozent des österreichweiten Stromverbrauches liefert, sind laut IG Windkraft keine Seltenheit mehr.
Die Windkraftbranche warnt seit Jahren davor, dass Österreich seine Winterstrom-Kapazität vernachlässigt. „Photovoltaik ist eine Sommerquelle, Windkraft die Winterquelle – und da haben wir zu wenig“, sagt oekostrom-Chef Ulrich Streibl.
Hinter der Photovoltaik steht mittlerweile eine wachsende Industrie mit eigenen Interessen: Modulhersteller, Installateure, Energiegenossenschaften und Förderstellen. Der Boom schafft Arbeitsplätze und Umsätze – aber auch eine politische Schlagkraft, die andere Technologien an den Rand drängt.
Die Schattenseiten der Erfolgsquote
E-Control mahnt inzwischen selbst zur Vorsicht: Der massive Ausbau habe zu Marktverwerfungen geführt, zu negativen Preisen und überlasteten Netzen. Die Haushalte zahlen heuer durchschnittlich 60 Euro an Erneuerbaren-Förderbeiträgen – eine Umlage, die in den kommenden Jahren weiter steigen dürfte. Ohne Förderungen, das geben auch die Regulatoren zu, gehe es nicht.
Österreich ist auf einem beachtlichen Weg, seine Stromversorgung klimafreundlicher zu gestalten. Doch der scheinbar grüne Strommix bleibt eine statistische Momentaufnahme, die von saisonalen Schwächen, Importabhängigkeit und Lobbypolitik überlagert wird. Solange es keine großflächigen Speicher, keine flächendeckend ausgebauten Netze und keine gleichgewichtige Förderung aller Erneuerbaren gibt, bleibt das 100-Prozent-Ziel vor allem eines: fast so gut wie die kolportierten 94 Prozent – aber keine physikalische Realität.
(PA/red)